Freitag, 31. August 2012

37 Jahre Bundesliga

Themenwoche „50 Jahre Bundesliga“, Teil 7. Für Carsten Koslowski alias Janus gibt es nur einen Verein: Fortuna Düsseldorf. Lange Jahre schrieb sich Janus auf seiner famosen Webseite "Janus kleine welt" durch alle Höhen und Tiefen mit der Fortuna gehend seine Finger wund. Leider ist seit damit Kurzem  Schluss. Anlässlich der Themenwoche "haute" Janus jedoch noch einmal in die Tasten und lässt bald 50 Jahre Bundesliga Revue passieren. Selbstverständlich aus dem Blickwinkel eines waschechten Fortunen...

50 Jahre, meine Herren. Das ist schon eine ordentliche Zeit. Das gilt für die Bundesliga, nicht für mich, zum Glück. Zu eurem Glück, denn ansonsten würde dieser Beitrag noch länger. Ich war in der Berichterstattung stets ein Fan der Vorgehensweise, nur über das zu schreiben, was ich auch selbst gesehen bzw. erlebt habe. Das erspart euch jetzt immerhin satte zwölf Jahre, denn meine ersten Erinnerungen aus der Bundesliga rühren aus dem Jahr 1975. Genauer gesagt, am 07.06.1975. Fortuna Düsseldorf schlägt den FC Bayern München mit 6:5, nach 2:4-Pausenrückstand. Ich komme aus der Nähe von Düsseldorf, war aber noch nicht einmal eingeschult, von einem Gang ins Stadion konnte keine Rede sein. Ich war an jenem Tag noch nicht einmal in der Nähe. Ich weilte mit Mutti im Urlaub im Schwarzwald. In einem Kaff namens Halbmeil mit gefühlt 13 Einwohnern. Der Sohnemann der Pensionsbesitzer war dort mein bester Freund, und wir tollten verbotenerweise gerne in dem Flüsschen herum, welches hinter der Pension träge seines Weges zog; das war die Kinzig. Ich habe keine Ahnung, wo genau sich Kaff und Kinzig geographisch befinden, aber die Namen sind hängen geblieben.

Hängen geblieben wie die Erinnerung an jenen Abend, als wir pudelnass aus der Kinzig stiegen und uns in die Sessel des einzigen Zimmers der Pension warfen, welches damals über einen Fernseher verfügte. Vielleicht ist mir der Abend, obwohl nahezu 40 Jahre vergangen sind, auch deshalb so gut in Erinnerung, weil es vor der Sportschau einen ordentlichen Anpfiff hagelte, da wir uns noch tropfend in die Couchpotato-Position begeben hatten. Erst von der Pensionsmutti, dann von meiner, so hatten wir beide was davon. Jedenfalls sind dieses Spiel und diese Begleitumstände meine ersten Erinnerungen an die Bundesliga. Weil ein 6:5 für mich ein unerhörtes Ergebnis war. Und weil ich schon wusste, dass es der Verein, der dem Maier-Sepp sechs Buden eingeschenkt und das Spiel gewonnen hatte, obwohl Gerd Müller dreimal traf, sein Zuhause ganz in der Nähe meines Zuhauses hatte. Oh, ich kannte mich schon aus, ich kannte Gerd Müller, Sepp Maier, Franz Beckenbauer und wie sie alle hießen. Die Nationalspieler waren mir ein Begriff, von der WM 1974 weiß ich auch noch einiges. Deshalb konnte ich kaum glauben, was ich damals in diesem riesigen Schwarzweißfernseher (Gesamtgewicht geschätzt drei Tonnen) erblickte. Ich verliebte mich auf der Stelle in eine Bundesliga, die solche Ergebnisse möglich machte. Und natürlich in Fortuna. Eine Woche später war ich wieder zuhause, kurz darauf hatte ich mit Hilfe der Bundesliga lesen gelernt. Okay, der Zweiten Bundesliga, die damals erst kurz zuvor ihre Premiere gefeiert hatte. „FC Augsburg schlägt den 1.FC Nürnberg mit 2:0“ stand im Sammelalbum unter dem Klebebildchen, das ich als Erstes unfallfrei vortragen konnte, woraufhin Mutti vor Schreck der Kochlöffel aus der Hand fiel, wie gesagt: ich war ja noch nicht eingeschult. (Als echte Pragmatikerin hat sie das Sammelalbum Jahre später mit dem Kommentar „Völlig veraltet!“ entsorgt, woraufhin mir im Geiste bis heute der Kochlöffel ebenfalls aus der Hand fällt, allerdings mehr in ihre Richtung.)

Seitdem lebe ich mit der Bundesliga. Und mit Fortuna Düsseldorf, auch wenn der erste Stadionbesuch noch bis 1978 warten musste. 22 Jahre hat Fortuna in der 1. Liga gespielt, die meisten davon habe ich mitgemacht, sei es vor dem Fernseher oder im Stadion. Ein 6:5 haben sie mir nicht mehr kredenzt, dafür aber ein 7:1 – wieder gegen Bayern München, wieder gegen den Mayer-Sepp, 1978. In der Saison 1983/84 verloren wir mal 0:6 in Dortmund. Kann passieren, war allerdings etwas peinlich, weil man das Hinspiel 7:0 gewonnen hatte. Ein 0:7 zuhause gegen den VfB Stuttgart im Jahr 1986, fünf Tore durch Jürgen Klinsmann. Eine Woche zuvor hatten wir übrigens 3:2 bei Bayern München gewonnen. Wir verloren auch mal 3:4 gegen den VfL Bochum, nachdem wir schon 3:0 geführt hatten. Man sieht schon, bei uns war immer was los. Nicht umsonst ist es Fortuna Düsseldorf, das einen bislang einzigartigen Bundesliga-Rekord hält, der hoffentlich auch noch lange allen Reformversuchen trotzen wird: ein einziges Mal, in der „Wiedervereinigungssaison“ 1991/1992, umfasste die 1. Bundesliga 20 Vereine. Und welches Team stieg als Tabellenletzter ab und ist somit bis heute die einzige Mannschaft, die in der 1. Bundesliga mal Zwanzigster wurde? Ganz genau. Muss man halt hassen oder lieben. Ich habe mich für Letzteres entschieden.


Natürlich sind mir auch Anekdoten anderer Vereine aus 37 Jahren Bundesliga im Gedächtnis, von Spielen ohne die Beteiligung der Fortuna. „Schlitzer“ Siegmann eröffnet das Anatomie-Seminar am lebenden Objekt Ewald Lienen; Horst Hrubesch knipst die Bayern aus, 4:3 nach 1:3-Rückstand für den HSV in München; der FC Bayern verliert zuhause gegen die Stuttgarter Kickers mit 1:4, nicht auf der Playstation, sondern wahrhaftig im Jahre 1991; „Phantomtor“ durch Thomas Helmer; Andy Möller Schwalbengott; Fjörtofts Übersteiger; Michael Ballack sichert seinen ersten zweiten Platz durch ein blitzsauberes Eigentor; Schalke Vier-Minuten-Meister; SSV Ulm vs. Bayer Leverkusen 1:9, Schalke vs. Leverkusen 7:4. Nur exemplarische Ereignisse, die mir jetzt ohne nachzuschauen eingefallen sind, und die mich stets in meinem Glauben bestärkten, dass ich recht daran tat, mich am 07.06.1975 in die Bundesliga zu verlieben. Dass zwischendurch der FC Bayern München immer mal wieder Meister wird, finde ich zwar langweilig, habe allerdings in den letzten 20 Jahren den Eindruck gewonnen, dass die mittlerweile ähnlich denken. Sei`s drum.

In den letzten 15 Jahren habe ich die Bundesliga überwiegend im Fernsehen verfolgt. Mit dem, was man heutzutage unter Berichterstattung versteht, bin ich nicht einverstanden. Bestes Beispiel ist die Partie, die meinen Verein nach 15 Jahren wieder in die 1. Liga zurückführte. Ein dämlicher, aber völlig friedfertiger vorzeitiger Platzsturm, schon zigmal in der Historie der Bundesliga vorgekommen, wurde medial zum 3. Weltkrieg aufgeblasen, weil achteinhalb Millionen Zuschauer es live gesehen hatten. Einen Tag zuvor wurden nach einem anderen Spiel fast 80 Personen verletzt und über 100 festgenommen; das kam auch live, aber nur im Dritten Programm vor ein paar Hunderttausend, das interessierte wohl nicht so sehr. Nun sind wir also wieder da, und ich werde die Bundesliga wieder überwiegend im Stadion erleben. Selbstverständlich als Abstiegskandidat Nummer Eins. Was ja auch klar ist – denn in der Ewigen Tabelle der Bundesliga, wo steht die Fortuna da? Natürlich auf Platz 18. Ich freu mich drauf.

Dieser kleine Ausschnitt meiner Erinnerungen zeigt wohl eins ziemlich deutlich: dass ich langsam aber sicher zur Sentimentalität neige. Aber verdammt nochmal, irgendwie hat es Spaß gemacht. Wie ein gutes 6:5 in der Bundesliga.

Wer mehr von Janus lesen möchte, dem sei hiermit sein bereits erwähntes Webportal "Janus kleine Welt" empfohlen oder jene Buchtitel, mit denen Janus die Fußball-Welt bereichert hat.

Donnerstag, 30. August 2012

50 Jahre Bundesliga – die fünf wichtigsten davon verpasst

Themenwoche „50 Jahre Bundesliga“, Teil 6. Als eine Art Fußball-Kultur-Beauftragter widmet sich Blogger Carsten Pilger heiß und innig seinem Lieblingsklub 1. FC Saarbrücken und dessen Fanszene. In seinem Beitrag für die Themenwoche philosophiert er mit Augenzwinkern über die vermeintliche „Gnade der späten Geburt“ und warum er die ersten 50 Jahre Bundesliga gewissermaßen verpasst hat...

„Dritte Bundesliga.“ - „Das heißt 'Dritte Liga', nicht 'Dritte Bundesliga'.“

Wieder einmal hatte ich jemanden korrigiert. Aus pedantischer Strenge, den wir Fußballfans sind Pedanten, die auf alle möglichen Einzelheiten achten, Kicker-Sonderhefte auswendig lernen und die Fußballregeln vollständiger rezitieren können als die Zehn Gebote. Dass es nicht die Dritte Bundesliga ist, in der mein 1. FC Saarbrücken spielt, sondern eben die dritthöchste Spielklasse im deutschen Herrenfußball, darauf bestehe ich nachdrücklich. Es ist Strenge und Phantomschmerz zugleich. In 50 Jahren Bundesliga spielte mein „Eff-Zeh“ nur ganze fünf Spielzeiten in dieser besten Liga Deutschlands. Gerade einmal an zehn Prozent dieser Geschichte schrieb der FCS, immerhin Gründungsmitglied, mit. Was daran so schmerzt: Kein einziges Jahr durfte ich erleben.

Die „Gnade der späten Geburt“ als politischer Begriff der Nachkriegsjahre hat in meiner Fußballwelt keinen Platz. In meinem Geburtsjahr 1989 spielte Saarbrücken zweitklassig, verlor die Relegation am Ende der Saison gegen Eintracht Frankfurt, die sich zum Dank ein Jahr später Anthony Yeboah schnappte.

1992 stieg der FCS wieder in die Bundesliga auf, verzückte mit dem ersten fußballspielenden US-Amerikaner der Welt, Eric Wynalda, die Liga, stieg aber am Ende unter Peter Neururer wieder ab. Wir schrieben das Jahr 1993, ich kam in den Kindergarten und hatte vermutlich noch keine Ahnung, wie ein Fußball aussieht. 2003 ging ich erstmals ins Stadion, dessen Faszination für mich vor allem eines ausmachte: Hier drin wurde mal Bundesliga gespielt. Hier liefen schon die großen Bayern auf. Vielleicht ja irgendwann mal wieder? Ich begann zu hoffen. 2004 wurden meine Hoffnungen genährt: Der Aufstieg in die Zweite Bundesliga gelang. „Zweite Bundesliga“, das hört sich ja auch schon bald wie die echte Bundesliga an. 2006 folgte wieder der Abstieg, 2007 die Oberliga.

Ich hatte längst meinen alten Traum vergessen, den ich allenfalls virtuell auf dem Computer oder der Spielekonsole mal ausleben kann: Der FCS in der Bundesliga. Ich begann mich mit der Situation zu arrangieren: Amateurfußball ist rumpelig, ulkig, urig, es gibt die alten Opas am Spielrand, Auswärtstouren über die Dörfer. Es hatte Charme. Aber insgeheim glaubt sich jeder Saarbrücker mit einem Geburtsrecht auf die Bundesliga ausgestattet. Dass es dies nicht gibt, ist die große Desillusionierung unserer Fangeneration.

So bleibt mir nichts weiter, als Leute zu korrigieren, wenn wieder mal die Rede von der „Dritten Bundesliga“ ist. Oder zu langen Erklärungen auszuholen, wenn mich jemand fragt, welchen Bundesligisten ich denn unterstütze. Die Bundesliga habe ich verpasst. Zumindest in den ersten 50 Jahren.

Carsten Pilger spitzt ansonsten seine flotte Feder im  FCS-Blog 2.0. Außerdem war er dafür mitverantwortlich, dass das lobenswerte FCS-Fanzine „Der Leuchtturm“ das Licht der Welt erblickte und seitdem nicht nur die saarländische Fußball-Kultur bereichtert.

Mittwoch, 29. August 2012

Wohnen im Mittelkreis

Themenwoche „50 Jahre Bundesliga“, Teil 5.  Was macht eigentlich... der Bökelberg? Bei Google Maps gibt es ihn noch. Dabei ist eines der geschichtsträchtigsten Stadien der Bundesliga seit mehr als sechs Jahren verschwunden. Gladbach-Edelblogger, Buchautor und Journalist Jannik Sorgatz berichtet über einen Besuch voller nostalgischer Gefühle.
 
Früher hatten Borussias Gegner hier reihenweise Scheiße am Fuß. Heutzutage muss man als Spaziergänger am Bökelberg wahnsinnig aufpassen, dass man nicht selbst in Scheiße tritt. Mönchengladbachs Hundebesitzer lassen anscheinend den nötigen Respekt vermissen. Dabei gehen sie an einem der heiligsten Fußball-Orte Deutschlands Gassi.

Wer noch nie vom Bökelberg gehört hat, wird den Wall der alten Haupttribüne sowie die Reste von Nord- und Südkurve für naturgegeben halten. Bei mir weckt dieser Besuch an einem heißen Sommertag mehr als nur nostalgische Gefühle. Da ist zwar die Gewissheit, dass Bundesligafußball an diesem Ort im Jahr 2012 nicht mehr zeitgemäß wäre. Aber am Bökelberg fing alles an. Wenn der Bökelberg nicht gleich diese Faszination auf mich ausgeübt hätte, wäre ich vielleicht nie so tief in diese Sache hineingerutscht, dass ich meiner Mannschaft nun bis in die Ukraine hinterherreise (oder auch: hinterherreisen darf).

Foto: J. Sorgatz
Was früher die Haupttribüne war, sieht heute nicht anders aus als eine grasbewachsene Düne an der Nordsee. Ich setze mich ein wenig ins Gras, genau an der Stelle, an der ich am 6. September 1996 saß: Mein erster Besuch auf dem Bökelberg, mit sieben Jahren, ein 3:0 gegen den Hamburger SV an einem Freitagabend, Flutlicht. Das muss Nick Hornby gemeint haben, als er über das Verlieben, über die Frauen und den Schmerz schrieb.

 16 Jahre später ist es verdammt still "In de Kull", wie der Weg mittlerweile heißt, der von der Bökelstraße in Richtung Mittelkreis führt. In einem der Häuser kreischt zwar eine Kreissäge, aber das ist ja nichts gegen einen Wechselgesang zwischen Nordkurve und Ostgerade am Samstagnachmittag. Mit neun Jahren war ich groß genug für den ersten Besuch auf der Stehplatztribüne. Wahrscheinlich habe ich bei jenem 5:2 gegen den VfL Wolfsburg zum ersten Mal einen Joint gerochen, ohne zu wissen, was ein Joint ist. Gras, Bier, Schweiß und Moos – das war der Duft des Bökelbergs.

Foto: F. Sorgatz
Mein größtes Spiel war wahrscheinlich ein 5:2 gegen Hansa Rostock, als die Borussia 1998 ihr bis dato größtes Nichtabstiegswunder in die Wege leitete. Im Vergleich zu dem, was dieses Stadion sonst so erlebt hat, war das natürlich ein Witz. Aber der Bökelberg war bescheiden genug, um auch ein 6:1 gegen Mainz 05 in der 2. Bundesliga wie etwas ganz Großes erscheinen zu lassen.

Bis Gladbach in der Saison 2011/2012 sensationell den Sprung auf Platz vier geschafft hat, habe ich die 70er-Jahre sogar als Belastung empfunden. Jetzt haben die Erzählungen aus den glorreichen Zeiten keinen mahnenden Unterton mehr. Ich kann sie einfach genießen.

Es hat ein paar Jahre gedauert, bis die Grundstücksverkäufe am alten Bökelberg richtig anliefen. Früher schon war diese Gegend in Mönchengladbach-Eicken ein feines Wohngebiet. Es pilgerten lediglich alle zwei Wochen bis zu 34.500 Fußballfans durch die Vorgärten. Die Ex-Borussen Eugen Polanski, Tobias Levels und Johannes van den Bergh haben hier gebaut. Wobei man mit Fug und Recht sagen kann, dass solch ein Immobilienkauf das "Ex-" schnell verschwinden lässt. Wer an den Bökelberg zieht, der ist immer noch Borusse.

Foto: J. Sorgatz
Wahrscheinlich werde ich mir nie ein Grundstück "In de Kull" oder "Auf dem Bökelberg" leisten können. Dabei sind allein diese beiden Straßennamen eine Überlegung wert, sich in Unkosten zu stürzen. Und im Garten würde ich einen Miniatur-Flutlichtmasten aufstellen. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Ein Pilgerort für nostalgische Gladbach-Fans scheint der alte Bökelberg seit 2004 jedoch nicht geworden zu sein. Jeder trägt die Erinnerungen lieber in sich, kramt sie sowohl in guten wie in schlechten Zeiten hervor. Nicht viele Stadien haben Bundesliga-Meisterschaften und einen Aufstieg in nahezu demselben Zustand erlebt. Und so erzählt man sich weiter die Geschichten vom Pfostenbruch und vom Büchsenwurf, denen in jedem Fußball-Museum üppiger Raum zugestanden würde.

Foto: J. Sorgatz
Natürlich darf auch nicht die letzte Geschichte fehlen, die der Bökelberg am Tag seiner Sprengung geschrieben hat: Die Haupttribüne sollte fallen, aber sie fiel nicht im ersten Versuch – der Mythos hat sich gewehrt. Jahre später sitze ich nun im Gras, schaue auf einen der Baukräne. Ein Häuslebauer hat sich Grundstück in Nähe des Mittelkreises gesichert. Ich hoffe, er weiß es zu schätzen.

Jannik Sorgatz parliert ansonsten in seinem famosen Blog "Entscheidend is auf'm Platz" über Favre und seine Fohlen. Borussen-Fans geht überdies das Herz auf, wenn sie Jannik Sorgatz  2. Buch Gegen Gladbach kann man mal verlier’n” nicht mehr aus den Händen legen können.

Dienstag, 28. August 2012

Hinz und Kunz und Lothar Woelk

Themenwoche „50 Jahre Bundesliga“, Teil 4. Blogger Heinz Kamke widmet sich in seinem Beitrag eher nachrangig seinem“ VfB Stuttgart. Eine größere Rolle spielt die intensivste Zeit seiner Beziehung zur Bundesliga, moralische Zeigefingererhebungen in kicker-Sonderheften gegenüber Geschäftsleuten in kurzen Hosen“ und warum einst Reiner Wirsching für ihn so etwas wie die letzte Hoffnung war.


Im Sommer 1983 veröffentlichte der Kicker ein Sonderheft mit dem Titel "20 Jahre Bundesliga". Was für mich als Spätgeborenen einerseits ein hilfreiches Kompendium sein sollte und auch war, führte mich andererseits erstmals auch etwas tiefer in die Schattenseiten des Profifußballs ein. So hatte ich den Begriff "Bundesligaskandal" bis dahin zwar immer wieder gehört und wusste im Wesentlichen, dass Schalke und ein Mann namens Canellas damit zu tun gehabt hatten; tiefer reichte weder meine Kenntnis noch mein Wissensdurst. Die Vergangenheit, noch dazu die dunkle, hatte mich als Steppke nicht allzu sehr interessiert – genauso wenig wie 1978 jene dunkle Gegenwart, die bei meiner ersten WM als Sechsjähriger “Militärjunta” gelautet hatte.

Mit Blick auf die Bundesliga kam Kicker-Chefredakteur Heimann vordergründig zu dem Schluss, sie habe sich in ihren 20 Jahren "trotz Turbulenzen und Problemen" bewährt. Liest man indes den einen oder anderen Absatz seines Leitartikels, darf man sich durchaus fragen – zumindest nehme ich mir die Freiheit –, wie es dazu kommen konnte, dass diese Liga noch immer besteht und gar nicht so wenige Menschen in ihren Bann zieht:

"Heute sind die 90 Minuten Spiel am Samstag nur noch Nachhall eines wahren journalistischen "Trommelfeuers" der vorangegangenen sechs Tage. Daß "auch noch" Fußball gespielt wurde, ist für viele lediglich noch der statistischen Vollständigkeit halber erwähnenswert. [...]

[...] Die Kluft zwischen denen, die mit dem Fußball und durch ihn in kurzer Zeit zu Großverdienern werden und jenen, die als Zuschauer in erster Linie dieses Geld aufbringen, wird immer größer. Der Fußball gerät in Gefahr, seine Anziehungskraft als Volkssport zu verlieren."
Und natürlich hatte man auch den passenden Ratschlag zur Hand:

"Nicht zur Schickeria darf es den Fußball drängen, sondern wieder mehr hin zu den Millionen Menschen, die mit Freuden sofort zurück in die Stadien strömen, wenn sie dort erleben können, was sie suchen: Spaß am Fußball als Spiel, Aufregung, Unterhaltung, Spannung, Abwechslung – eben Freude."
Spiel, Spaß, Spannung, Freude – da bin ich schon ein wenig hin- und hergerissen zwischen dem Impuls, dem geschätzten Herrn Heimann ungeachtet seiner arg getragenen Formulierung ein zustimmendes "Gegen den modernen Fußball!" zuzurufen (davon ausgehend, dass er es an irgendeinem jenseitigen Ort – unaufgeregt an einem Scheinwerfer drehend, um einen klaren Blick auf die Bundesliga zu haben – hören würde), und meiner festen Überzeugung, dass es Unsinn ist, gegen den modernen Fußball zu sein. Was auch schon Erich Ribbeck und sein Libero 2000 einsehen mussten, aber das ist ein anderes Thema.

Während die Liga nun in ihre fünfzigste Saison geht, beginnt für mich erst die fünfunddreißigste Spielzeit. Nach dem Kölner Double ging's los, ohne Kausalität. Die Bundesliga hat mich seither stets begleitet, und ich sie, zumeist eng und treu. Dass ihre Anziehungskraft gelegentlich variierte, mag zum Teil an ihr gelegen haben, zum Teil an den Resultaten, zum Teil an mir selbst. Mal verfolgte ich sie verbissen, mal spielerisch bis vermeintlich entspannt, in seltenen Fällen ein wenig angewidert und immer wieder auch frustriert.
Oh, das klingt jetzt gar nicht so positiv, irgendwie. Vielleicht habe ich mich doch etwas zu sehr am gedruckten Leitmedium orientiert, das sich immer mal wieder kritisch mit dem ganz Grundsätzlichen befasste. So bereits im ältesten mir zur Verfügung stehenden Bundesliga-Sonderheft 1969/70, das sich in lesenswertem Ton und unter fleißiger Verwendung des Halbgeviertstrichs mit den allfälligen Begleiterscheinungen des Profifußballs befasst:

"Es ist längst kein Geheimnis mehr, daß am Feuer der Begeisterung für das runde Leder gar viele ihr Süppchen kochen. [...]
Bei Bundesligaschlagern wird – nach der privaten Rechnung von Fachleuten – jeweils gut eine Million DM umgesetzt.

[...] Die Stände mit Bier, großen und kleinen Würstchen, Süßigkeiten und Souvenirs sind dann umlagert, als gäbe es etwas geschenkt. Dabei muß der Stadionbesucher, der seine Kehle ölen will, für eine Flasche Bier mindestens den stolzen Preis von einer Mark berappen; dabei kostet ein Stück Stoff am Stiel – Fahne genannt – sechs bis sieben DM.
An den Souvenirständen gibt es beinah nichts, was es nicht gibt – und alles zu gesalzenen Preisen.

Übermäßiger Bierkonsum nimmt dabei einem Teil der Käufer den Blick für die richtige Preisrelation. Dennoch gehen selbst teuer entstandene Fahnen ab und zu in Flammen auf."
Im gleichen Heft wird übrigens der damalige Braunschweiger Trainer Helmut Johannsen mit einer visionären Aussage zitiert: "Aber auch der Libero wird nicht die letzte Lösung sein. Er wird – so meine ich – "aufgelöst", indem je nach Erfordernis etwa ein Verteidiger die Aufgabe übernimmt. Schon aus dem Überraschungsmoment heraus müssen neue taktische Varianten gefunden werden." Erich Ribbeck war zu jener Zeit Trainer von Eintracht Frankfurt.

Aber ich wollte nicht von Taktik reden, sondern über Inhalte des Kicker. Der sich auch in den Folgejahren gerne mal am Finanziellem rieb, so im Sonderheft 78/79 mit dem Text "Das Geld verdirbt die Jungen", in dem der vom 1. FC Köln soeben verpflichtete Bernd Schuster das Schlagwort der "Großverdiener ohne Leistungsnachweis" illustrieren durfte. "Ein schlimmes Kapitel", übrigens.
1982 befasste sich Rainer Kalb ebenfalls mit dem lieben Geld sowie mit einem "Vorurteil an Stammtischen: Die Profis vernachlässigen ihren Beruf" und deckte auf: "Der schlimme Punkt ist nämlich der: Unsere Nationalspieler kennen den Wert des Geldes nicht mehr, denn nur in seltenen Fällen müssen sie den "echten" Preis bezahlen."

Beispiele gab es reichlich, von den 15 % Rabatt, die VfB-Spieler beim Kauf eines Neuwagens aus Stuttgarter Produktion erhielten, bis hin zum vereinsübergreifend agierenden Egon Rascher, "der Goldschmuck herstellt. Kumpel von allen, mit allen per Du, gewährt er den Stars Rabatte von fast 80 Prozent, um so die anderen Vereinsspieler zu ködern, die wenigstens eine Goldkette wie die Nationalspieler haben wollen, wenn sie schon nicht Nationalspieler sind."
Angesichts solcher Zustände und der Selbstvermarktung einzelner Bundesligaspieler, legte der Kicker, nicht zuletzt im Angesicht der Breitner'schen Rasur, den Finger in die nachweltmeisterschaftliche Wunde: "Es gibt Geschäftsleute, die spielen Fußball nur noch, um weiter Geschäfte machen zu können. Manchmal fragt man sich, ob sie beim Spielen noch Freude empfinden, Spaß." Da war sie also wieder, die Freude. Oder eben nicht.

Immerhin: "Aber die Geschäftsleute in kurzen Hosen bilden dennoch die Minderheit."
Dann jedoch: "Doch leider bestimmen ausgerechnet sie das Bild der Branche. Denn sie sind verteufelt gute Fußballer. Auch wenn sie sechs Tage im Jahr weniger trainieren als Hinz und Kunz oder Lothar Woelk."

Zum besseren Verständnis habe ich einen Auszug aus jenem Heft (S. 31) beigefügt:

Genug der Sonderhefte. Deren wichtigstes fehlt nämlich. Ist verloren gegangen. Oder zumindest vorübergehend verschütt. Es steht auch nicht Kicker drauf, sondern BP. Genau, die Mineralölgesellschaft. Die hat in den 70ern und 80ern einige Jahre lang ein Heftchen im A5-Format herausgegeben, das inhaltlich nicht in Ansätzen mit denen des Kicker oder mit modernen Zeitschriften zu vergleichen ist. Aber es war mein erstes eigenes, das von 79/80.
Die Saison 78/79 war, ich sagte es bereits, die erste gewesen, die ich recht regelmäßig verfolgt hatte – ganz besonders, nachdem ich in der Winterpause eine Wette gegen einen Freund meines Vaters eingegangen war. Er hatte auf den HSV gesetzt, ich auf Kaiserslautern, das in jener Saison bis zum 27. Spieltag nahezu durchgehend an der Spitze stehen sollte, dann aber vom VfB, damals noch ein Verein unter vielen, und schließlich vom späteren Meister aus Hamburg abgefangen wurde.

So etwas sollte mir nicht noch einmal passieren, ich musste mich also besser informieren. Natürlich in Papas Sonderheften unterschiedlicher Provenienz, aber eben auch und nicht zuletzt im eigenen BP-Heftchen, das mich durch die Saison begleitete und mir lange Jahre lang immer wieder an dieser oder jener Ecke des Hauses in die Finger kam. Mit Keegan auf dem Titelbild. Inklusive BP-Logo auf der Brust, klar.
 
Und jetzt ist es weg. Vermutlich beim Umzug meiner Eltern verschwunden, vielleicht auch, ich kann das nicht mit Sicherheit ausschließen, einem momentanen nostalgiekritischen Ordnungswahn meinerseits zum Opfer gefallen.

Kurz dachte ich über einen Nachkauf im Online-Antiquariat nach, etwas länger darüber, mal bei meiner Tante anzufragen, ob sie aus ihrer Zeit als Tankstellenbesitzerin noch ein paar Heftchen im Archiv liegen habe. Sie hatte mir damals ein paar Hefte für meine Freunde mitgegeben, deren Väter weder Kicker-Abonnenten noch an fünf Tagen pro Woche auf irgendeinem Fußballplatz anzutreffen waren, sodass ihr fußballerisches Fundament zunächst nicht allzu solide und der einen oder anderen familiären Erschütterung unterworfen war.
Gleichwohl entstanden auch bei ihnen erste Liebeleien mit einzelnen Vereinen, die bei den meisten von uns zwischen familiärer Tradition (zunächst) und Distinktion (später) schwankten und zum Teil nicht nur eine gewisse Langlebigkeit erreichten, sondern auch mit der notwendigen Klarheit im Urteil einher gingen. So war mein Freund Matze Krause rasch bei der Hand, als es darum ging, jenes Foulspiel an Ewald Lienen zu verteufeln und eine drakonische Strafe zu fordern. Mit dem zunächst übersehenen (man hatte die Informationsflut in jungen Jahren noch nicht so im Griff) Umstand konfrontiert, dass der Übeltäter ein Bremer gewesen war, schwenkte er sogleich auf eine deutlich moderatere Linie ein, verzichtete aber darauf, ob Siegmanns erhaltener gelben Karte eine Protestnote an den DFB zu formulieren.

Von besonderer Relevanz waren, wem sage ich das, die statistischen Daten der Spieler. Wer war besonders groß, schwer, klein, alt, leicht oder eben, und darauf legten wir unser Hauptaugenmerk, jung? Schließlich wollten wir wissen, wie viele Jahre wir noch zu trainieren hatten, ehe wir selbst in einem Profikader auftauchen würden – gerne nahm mein Vater diese berufliche Perspektive immer mal wieder zum Anlass, bereits in jungen Jahren die kolportierte Alkohol- und Nikotinabstinenz der Nachwuchsstars zur Conditio sine qua non einer erfolgreichen Sportlerlaufbahn zu erheben. Der Schlucksee war mir zu jener Zeit ebenso wenig ein Begriff wie Preben Elkjær Larsen.

Während in den ersten Jahren die neuen Namen zwar nicht an uns vorüber rauschten, aber eben doch neue Namen waren, von denen man den einen oder anderen im Lauf der Saison wieder hörte, war die Situation nach den Juniorentiteln unter Dietrich Weise und einer gewissen medialen Präsenz eine andere: plötzlich tauchten im Bundesliga-Sonderheft junge Spieler auf, die wir schon kannten. Deren Erfolge wir live am Fernseher miterlebt hatten. Thomas Herbst stand nach seinem Wechsel von der Hertha (der anderen!) nach München im Kader des FC Bayern, Zorc und Loose beim BVB, Vollborn bei Uerdingen oder Leverkusen, so genau unterschied man da ja nicht, auch Wohlfarth, Waas, Falkenmayer oder Brunner standen am Beginn durchaus beeindruckender Karrieren. Der VfB war leider nicht vertreten, war aber bestimmt schon mit dem Scouting von Michael Nushöhr und Leo Bunk beschäftigt.
Wie gesagt: wir sahen uns vor allem die jungen Spieler an und wünschten ihnen Einsätze – im Grunde würden sie uns ja den Weg bereiten. In meiner Sonderheftpremierensaison 79/80 zählten zu den wenigen erst 1961 geborenen Jonny Otten und Thomas Schaaf bei Werder sowie Lothar Matthäus, 60er wie Littbarski und Immel waren bereits etabliert. In den Folgejahren stieg der Grenzjahrgang über 1962 (Günther Schäfer, Mathy) und die 63er wie Waas und Loose bis zur Jubiläumssaison 82/83 mit den 64ern Hochstätter, Frontzeck, und Kamps aus Gladbach sowie mit den kleinen Brüdern Abramczik und Rummenigge

Wir wurden älter, die Schule wurde wichtiger, rückblickend frage ich mich, ob nicht die Jahre von 1979 bis 1983 die intensivste Zeit meiner Beziehung zur Bundesliga waren, oder zumindest die, deren Einzelereignisse – unter Berücksichtigung der damaligen Informationsmenge und -geschwindigkeit – am stärksten im Gedächtnis haften blieben. So wie Øklands 4:0 gegen die Bayern, wie Siegmanns Foul und in ganz anderem, erschütterndem Kontext, Adrian Maleika. Für mich als Kind der Provinz, das damals noch kein Bundesligastadion von innen gesehen hatte, war das Thema Fankultur und insbesondere die aufkommende Gewaltdebatte eine sehr ferne, kaum zu (be-)greifende. Genau wie mir Hass und Gewalt im (tatsächlichen oder vermeintlichen) Fußballkontext auch heute völlig fern und kaum zu begreifen sind, übrigens.
Was wollte ich sagen? Genau: Wir wurden älter, die Schule wichtiger, und mit den Jahren reifte die Erkenntnis, dass es wohl eng werden würde. Die Schmäler-Zwillinge waren bei ihrem Auftauchen im Sonderheft nur wenige Jahre älter als ich, der ich, weit von oberen Ligen entfernt, in der örtlichen B-Jugend kickte, und so wird es wohl auch Ausdruck eines gewissen Selbstschutzes gewesen sein, dass die Geburtsjahrgänge der nachrückenden Spieler von stetig abnehmendem Interesse waren. Kurz flackerte die Hoffnung dann doch noch einmal auf, und sie hieß Reiner Wirsching. Mit 25 hatte er noch in der bayerischen Bezirksliga gespielt, um dann binnen eines halben Jahres über die dritte in die erste Liga aufzusteigen und dort für Furore zu sorgen.

Leider bin ich mittlerweile über 25, leider ist auch diese Chance vertan.
Stehen im Kicker-Sonderheft eigentlich auch die Geburtsdaten der Zeugwarte?


Heinz Kamke spielt ansonsten den stets sprachlich eleganten Doppelpass mit sich selbst in seinem wunderbaren Blog angedacht, der nicht nur für Menschen überaus lesenswert ist, die dem VfB Stuttgart die Daumen drücken.

Montag, 27. August 2012

Weichgespielt

Themenwoche „50 Jahre Bundesliga“, Teil 3. Kuschelweich ist die erfolgreichste Weichspülermarke Deutschlands, deren Marktanteil hat sich innerhalb kürzester Zeit mehr als verdreifacht. Ähnlich rasante Steigerungsraten hat die Spezies Kuschelweich wohl auch in der Bundesliga zu verzeichnen. Wie sonst ist es zu erklären, dass BVB-Ikone und Lautsprecher Sammer als Messias an der Säbener Straße gefeiert wird, Fußballdeutschland nach echten Typen schreit und „Chefchen“-Diskussionen über Monate die Gazetten dominieren?  Autor Udo M. bereichert die Themenwoche mit einem „weiteren überflüssigen Beitrag in der emotionalen Debatte um fehlende Häuptlinge und die Sehnsucht nach Alphatieren“.

Blicken wir zurück auf 50 Jahre Bundesliga, dann gilt es nicht lange zu überlegen  – schnell kommen die großen Spieler in den Sinn, die starken Persönlichkeiten, Anführer und Haudegen, die ihre Zeit, zumindest aber ihre Mannschaft und deren Spielweise, geprägt haben. Und heute? Heute beschleicht uns mehr und mehr der Gedanke, dass die Gilde der großen Führungsspieler eine aussterbende ist. Emotionslos, glatt, brav, langweilig – diese Attribute fallen uns ein, wenn wir den Großteil der Bundesligaspieler und insbesondere die deutschen Nationalspieler bewerten. Bezeichnend für die neue Phalanx der Langeweile ist deren Auftreten in den Medien: Die aktuellen deutschen Ikonen wie Neuer, Lahm oder Schweinsteiger treten vor die Mikrofone wie die abgebrühtesten Diplomaten, je nach aktuellem Tabellenrang oder Spielergebnis lächelnd oder mit betroffenem Gesichtsausdruck, ergehen sich ein paar Momente in allgemeinen Floskeln, verschwinden und sind samt ihrer Worte umgehend wieder vergessen.

Foto: Udo M.
Wo sind also eben diese früheren Helden hin, all die Spackos, die munter drauflosplaudern, auf und neben dem Platz ihre Meinung sagen und sich nicht um eventuelle Konsequenzen scheren? In den vergangenen Jahren hat es diese zweifellos in verschiedenen Ausprägungen immer wieder gegeben. Natürlich mag man zu jedem Spieler stehen, wie man will. Wenn etwa Uli Stein den Kaiser als Suppenkasper bezeichnet und aus der DFB-Elf geworfen wird, dann ist das zugegebenermaßen nicht vorbildlich und auch nicht leistungsfördernd. Gleiches gilt für Effenbergs erigierten Mittelfinger. Aber eins sind derartige Stories auf jeden Fall, Skandal hin oder her: Sie sind authentisch und unterhaltsam. Und es sind nicht nur die großen Sprüche, die uns mittlerweile abgehen. Wenn selbst der Friese Dieter Eilts, nicht unbedingt für staatstragende Reden bekannt, dereinst auf eine verklausulierte und mit Konjunktiven überladene Journalistenfrage mit dem Gegenargument antwortete, dass seine Oma, wenn sie ein Bus wäre, hupen könne, dann war das großes Kino – von einem Lars Bender wird man derartiges jedoch nicht hören. Oder ein Mario Basler, der nach Spielschluss in Bezug auf den verantwortlichen Pfeifenmann Kemmling äußert, dieser „müsste heute normalerweise richtig auf die Fresse kriegen“. Letztere Aussage ist ehrlich, mutig - und wird einem heutigen Bundesligastar ebenfalls kaum noch unterlaufen. Für die große Unterhaltung wird weniger denn je der verbale Angriffsfußball verantwortlich sein, hier muss die Journaille auf der Suche nach Spielern mit Profil auf den einen oder anderen Stolperer hoffen, der den dauerüberwachten Zöglingen im echten Leben passiert.

Aber auch hier gilt: Kann man sich einen Holger Badstuber vorstellen, der wie einst St. Paulis Carsten Pröpper betrunken in die Hotellobby pinkelt? Oder Tim Wiese und André Schürrle als Schlägertrupp Basler/Scheuer in einer Pizzeria? Okay, Wiese schon. Aber Schürrle als Prototyp der neuen Generation A wie aalglatt hat im Zweifel noch nie eine Pizzeria von innen gesehen – nicht der Marke „Schürrle“ dienlich, zu ungesund, zu verrucht. Ein Glücksfall boulevardesker Natur, wie ihn der ansonsten eher biedere Gladbacher Torwächter Dariusz Kampa 2005 lieferte, indem er sich vor Journalisten und Kollegen medienwirksam in der Lobby des Mannschaftshotels übergeben musste, wird wohl einmalig bleiben. Die heutige Spielergeneration besäuft sich nicht öffentlich, sondern spielt gemeinsam Tischtennis und trägt dazu als neuzeitliche Hasenpfote einheitliche Energiearmbänder zur Schau. Boatengs kurzfristiger Ausrutscher auf einen vollbusigen C-Promi ist da schon das Höchste der Gefühle. Vermutlich ist es dem Mangel an Alternativen auf seiner Position zu verdanken, dass ihn dieser medial begleitete Fauxpas nicht den Adler gekostet hat.

Aber wie konnte es soweit kommen? Wenn Jogi mit akkurat gefalteten Strenesse-Ärmeln zum großen DFB-Casting läutet, dann wissen die nervösen Teenager, was die Jury von ihnen erwartet. Und die Jungs, die nicht direkt eine Runde weiterkommen, wollen so werden wie die turnusmäßig gekürten Superstars. Starke Charaktere, die sich nicht unterordnen können oder wollen, werden ignoriert bzw. ausgemerzt. Die unrühmliche Ausbootung des Capitanos, zweifellos durch die eigene Verletzung und starke Nachrücker gefördert, war bezeichnend für die Idee Löws und sein Ideal einer neuen Fußballergeneration. Ein Kuranyi, ein Helmes, inzwischen auch ein Wiese, sie alle genügen offenbar nicht eben diesen Löw'schen Ansprüchen der biederen Zurückhaltung.

Domestizieren nennt man es in der Tierwelt, aus wilden Bestien brave Haustiere zu machen. Jogis Jungs sind dabei die Speerspitze im modernen deutschen Fußball, dessen Anforderungsprofil an einen (jungen) Ligaspieler heute ein in vielen Bereichen gänzlich anderes ist als noch vor wenigen Jahren. Bezeichnend ist hier der Umgang mit bzw. in der Öffentlichkeit. Die Spieler sind nicht nur in einer anderen medialen Umwelt groß geworden, sondern werden sehr früh durch Berater und insbesondere die Presseabteilungen der Clubs geschult, eingenordet und gedrillt, wie sie sich im Kontakt mit der Presse zu verhalten haben. Und das Bemerkenswerte daran: Die Spieler gehen heute darauf ein.

Das war früher anders - noch vor zehn Jahren sind die großen Sportmedien wie Kicker und Sport-Bild, natürlich auch die Bild selbst, auf eine gänzlich andere Resonanz innerhalb der Spielerschaft gestoßen, haben dabei Vereinsinteresse und Pressesprecher einfach ignoriert. Die Journalisten hatten nicht nur die Handynummern aller Spieler, sondern konnten sich ohne Wissen des Vereins mit Spielern verabreden, Interviews durchführen und direkt veröffentlichen. Das Bedauern der Pressesprecher des HSV, der Hertha und von Werder Bremen war unüberhörbar, der Situation standen die Clubs allerdings machtlos gegenüber. Ähnliches fatalistisches Lamento gab es von Vereinsseite mit Blick auf die O-Töne der Spieler, die sich unqualifiziert äußerten, sich selbst und den Verein teilweise bloßstellten und damit immer wieder Ärger im Paradies heraufbeschwörten. Aber Medientrainings für Spieler? Heute Gang und Gäbe, vor zehn Jahren in einzelnen Vereinen undenkbar, von der damaligen Spielergeneration belächelt und ignoriert.

Gerade die Boulevardmedien, selbst wenn zum Teil Agreements bestanden, Privatangelegenheiten der Spieler, die nach 22 Uhr vorfielen, nicht zu veröffentlichen, haben den direkten Spielerkontakt gepflegt und perfektioniert, sehr zum Missfallen der Clubverantwortlichen. Wenn Benno Möhlmann früher das Trainingsgelände des HSV verschloss und dann beleidigt mit einer großen Anzahl Journalisten nicht mehr redete, andernorts Stadionverbote für einzelne Pressevertreter erteilt wurden und Bild-Fotografen 50 Meter Abstand zum Trainingsplatz halten mussten, dann zeugte das von einem insgesamt angespannten Verhältnis.



Inzwischen aber hat sich die Situation derart gewandelt, dass selbst zweitklassige Nachwuchskicker sehr wohl überlegen, wie sie sich Medienvertretern gegenüber verhalten und welche unverfänglichen Aussagen sie in Interviews treffen dürfen.

Bei dieser Entwicklung bleibt zweifellos eine Menge Unterhaltungswert auf der Strecke, und so verwundert es kaum, dass Deutschlands Medien nach Leitwölfen schreien, die auf und neben dem Platz den Ton angeben. Ist die gesamte Diskussion also vielleicht eine inszenierte, die den wahren Wert der Alphamännchen für die Mannschaft überinterpretiert? Vielleicht ja. Denn Führungsqualitäten im Fussball kann man auch über spielerische Klasse transportieren, insbesondere wenn das Spielsystem im Vordergrund steht. Der FC Barcelona oder die spanische Nationalelf machen es vor, auch bei Zidane und bei Messi genügt(e) die Leistung auf dem Spielfeld, was zählt ist schließlich „auf‘m Platz“. Diese Perspektive ist bei Ausnahmekönnern ihres Fachs sicher richtig und nachvollziehbar, insgesamt allerdings doch etwas romantisch. Denn so emotionslos und brav, wie sich die deutschen Jungs außerhalb des Spielfeldes gebärden, so wenig ecken sie oftmals auch auf dem Rasen an. Offenbar verhält es sich so, dass aktuell in Deutschland nur der, der sich grundsätzlich traut, den Mund aufzumachen und den eigenen Standpunkt offensiv zu vertreten, vorangehen und führen kann - und als Führungsspieler anerkannt und medial als solcher positioniert wird. Und ganz ehrlich, mehr Spass machen Fußballer mit einer großen Klappe doch auch.

Deshalb nährt ein Motzki Sammer, lebender Gegenentwurf zu Löw, die Hoffnung der schreibenden Zunft und der Fans, die allesamt nach Geschichten und Typen lechzen. Der haarlose Feuerkopf hat schon in Jugendnationalmannschaften bewusst Hierarchien aufgebaut und die Spieler nach kreativen Individualisten, Führungs- und Mannschaftsspielern unterteilt und zusammengestellt. Da sind wir doch ganz besonders gespannt, welche neuen bajuwarischen Häuptlinge die nächsten 50 Jahre Bundesliga dominieren wollen. Schau'n mer mal.

Udo M. (Jahrgang 1977, bekennender Werder-Fan) hat 2003 seine Abschlussarbeit an der Ruhr-Universität Bochum zum Verhältnis zwischen PR und Journalismus im Spannungsfeld der Fußballbundesliga geschrieben, indem er u.a. mit Pressesprechern verschiedener Bundesligaclubs und Sportjournalisten der Fußball-Leitmedien Interviews führte.

Sonntag, 26. August 2012

Sieben

Themenwoche „50 Jahre Bundesliga“, Teil 2. Rot-Weiss-Essen-Edelfan und Fußball-Blogger Uwe Strootmann erinnert sich in seinem Beitrag an die zum Teil tragischen sieben Bundesligajahre seines Lieblingsklubs, an den Bundesliga-Skandal, an triumphale Heimsiege gegen den FC Bayern oder Schalke 04 und auch das einst aufstrebende Talent Frank Mill. 

Die Bundesligageschichte des RWE ist, im Gegensatz zu seiner sonstigen Historie, eigentlich schnell und als Siebenzeiler erzählt: In jeder Zeile eben eine Saison. Wobei auch in diesen sieben Spielzeiten nicht wirklich für großes sportliches Aufsehen gesorgt werden konnte. Aber man war halt trotzdem noch wer, schließlich von 1948 bis 1961 in der alten Ligenordnung durchgehend erstklassig. Gar Pokalsieger und Deutscher Meister. Leider hat es trotzdem nicht gereicht, um direkt in der Premierensaison im Oberhaus mitzumischen. was dann aber mit der Saison 1966/67 der Fall war. Und da der ungeliebte Nachbar Schalke 04 direkt im ersten Heimspiel mit 4:1 bezwungen wurde, durfte getrost wieder abgestiegen werden. Das Saisonziel wurde ja früh erreicht.

Neuer Anlauf in der Saison 1969/70, die nicht mit dem Abstieg, sondern Platz 12 abgeschlossen werden konnte. Diesen schaffte man dann aber direkt in der nächsten Saison 1970/71 wieder. Den A b s t i e g  j e t z t . R a u s  m i t A p p l a u s a b e r , d e n n,  e s  g a l t e i n m a l "Spitzenreiter,Spitzenreiter..hey,hey…" zu skandieren.

Sollte es dieses Highlight kreativer Fan Dichtung schon seinerzeit gegeben haben. Ich hätte aber auch einfach schreiben können: Am 3. Spieltag der noch jungen Saison war der RWE zum ersten und letzten Male Tabellenführer der Bundesliga. Diese Saison wurde in ihrem weiteren Verlauf zur schicksalsträchtigsten für den RWE und vielleicht auch der Grundstein für die gewisse Tragik, welche diesem Verein von nun an anhaftete.

So wurde am 13. Februar 1971 der FC Bayern mit 3:1 bezwungen, es war aber nicht nur der letzte Heimsieg dieser Saison, sondern auch die Geburtsstunde für die Rüpel aus der Westkurve. Ein Gymnasiast (welch Anachronismus eigentlich) war es, welcher dem Arbeiterverein nicht nur ein schlechtes Image bescherte, sondern Sepp Maier auch noch ein Messer in seiner Nähe. Immerhin hat sich der junge Mann später noch telefonisch entschuldigt. Heutzutage, wo es oft an Respekt und Anstand fehlt, wohl eher eine Seltenheit. Ja und dann war dann ja noch dieser Skandal. Der Skandal! Der FC Meineid ward geboren, der RWE hatte verloren. Die Manipulationen anderer hatten den erneuten Abstieg und wieder Platz 18 zur Folge. Davon hat sich der RWE nie erholt.

Trotzdem war man in der Saison 1973/74 schon wieder zurück im Oberhaus und belegte nach einer recht unspektakulären Saison am Ende den 13. Platz. In der darauffolgenden Spielzeit 1974/75 konnte sich der Verein um einen Platz auf Rang 12 verbessern, musste aber zusehen, wie die WM-Stadien in Gelsenkirchen und Dortmund errichtet wurden, aber eben nicht in der eigenen Stadt. 1975/76 gab es dann den achten Platz nach dem 34. Spieltag. Niemals zuvor oder danach konnte der RWE einen einstelligen Tabellenplatz am Saisonende belegen. Horst Hrubesch, Willi Lippens…es lag ein Hauch von beginnenden Glamour über Vogelheim und Bergeborbeck.

Der Hauch verflog dann aber in der nächsten Spielzeit 1976/77 recht schnell. Abstieg und Platz 18. Daran konnte auch das aufstrebende Talent Frank Mill nichts mehr ändern. Im Mai 1977 wurde also die Akte Bundesliga an der Hafenstraße vorerst zugeklappt und verstaubt dort nun schon seit schlappen 35 Jahren. Schuld daran ist natürlich nur der FC Schalke und der DFB. So das Selbstverständnis der weiterhin erstklassigen Fans des RWE. Und wenn uns auch der RWE nun seit Dekaden nicht mehr mit Bundesligafußball beglückt, so war doch alles dabei, was einen Verein so begehrenswert macht. Auch wenn es sich meistens nur um Negativerlebnisse handelte. Die Recherche Bundesliga trifft RWE hat übrigens noch einen erschreckenden Fakt zutage gefördert: In Vier ausgesuchten Spielen gegen die SG Eintracht Frankfurt in den Jahren 1974/75 und 1977 kam der RWE auf ein Torverhältnis von unglaublichen 2: 28 Toren!

Unter dem Bundesligastrich bleibt aber folgende Erkenntnis zwingend festzuhalten: „Dem Verein Rot-Weiss Essen, der 1971 wegen der Manipulationen anderer abgestiegen war, wurde keine Wiedergutmachung gewährt!“

Ansonsten hört Uwe Strootmann in seinem unschlagbar guten Blog „Im Schatten der Tribüne“ bei Rot-Weiss Essen das Gras wachsen.

Samstag, 25. August 2012

Pfaff kommt im Bayerntor an, Kaltz‘ Elfmeter nicht

Es geht los! Den ersten Anstoß bei der Themenwoche 50 Jahre Bundesliga - Typen, Titel und bloß nicht wie Tasmania“ macht TRAINER BAADE und sucht in 50 Jahren Bundesliga vergeblich nach konstanten Rivalen des FC Bayern, erinnert sich an Erlebnisse des jungen Trainer Baade in München und an die erste Sternstunde des belgischen Torwartkönigs Jean-Marie Pfaff im Tor des Rekordmeisters.
 
In den nun bald 50 Jahren des Bestehens der Bundesliga wird eines  verzweifelt und ebenso erfolglos gesucht: Ein konstanter Rivale des FC Bayern München. Nur sechs Jahre währte die Phase von Einführung der Bundesliga bis zu Bayerns erstem Titel 1969, ab da war alles anders und sollte es bis heute bleiben. Der Eintrag "FC Bayern München" ist Stammgast auf der Salatschüssel. Ein Umstand, den kein anderer Bundesligaclub für sich in Anspruch nehmen kann.

Große Rivalen gab es jedoch einige in diesen fünf Dekaden, allein, keiner konnte sich dauerhaft etablieren. Als die Borussia aus dem kleinen Mönchengladbach, bis dahin der ärgste Konkurrent der Bayern, 1979 den UEFA-Pokal gewann, sollte Berti Vogts mit seiner Weissagung Recht behalten: "Schaut ihn Euch gut an, es wird auf lange Zeit der letzte Pokal sein, den man in Mönchengladbach zu sehen bekommt."

Die so entstandene Lücke füllte zunächst der 1. FC Köln, anschließend in seiner einzigen Hochphase in der Bundesliga der Hamburger SV unter den Fittichen von Manager Günter Netzer. Deutscher Meister 1979: Hamburger SV, der erste Titel in der Bundesliga. Doch die Bayern, die in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre geschwächelt hatten wie noch nie zuvor, hatten mittlerweile Paul Breitner zurückgeholt, Karl-Heinz Rummenigge stand im Zenit seiner Fähigkeiten und so wurde dann doch der FC Bayern gleich zwei Mal in Folge wieder Meister. Vizemeister jeweils: der Hamburger SV, welcher sich prompt 1982 seinerseits erneut den Bundesliga-Titel sicherte.

So begann die Saison 1982/1983 unter dem Vorzeichen, dass sich diese zwei großen Teams um den Titel duellieren würden, welche unter sich auch die letzten vier Meistertitel ausgespielt hatten. Der FC Bayern hatte außerdem weiter aufgerüstet, im Tor stand seit dieser Saison der Nationaltorwart Belgiens: Jean-Marie Pfaff. Dessen Bundesligadebüt hätte unglücklicher kaum verlaufen können, als er sich in seinem ersten Spiel im Dress der Bayern einen Einwurf von Uwe Reinders selbst ins Tor bugsierte und mit diesem Eigentor die 0:1-Niederlage der Bayern besiegelte. Pfaff stand deshalb durchaus unter Druck beim Weltclub Bayern München.

Der HSV hingegen hatte ein Aufrüsten kaum nötig, befanden sich doch mit Felix Magath, Horst Hrubesch, Manfred Kaltz oder Uli Stein schon länger internationale Ausnahmekönner im Kader. Mit Ernst Happel verfügte man gar über einen Trainer der Extraklasse an der Seitenlinie. So deutete schon am 9. Spieltag jener Saison 1982/1983 Vieles darauf hin, dass sich der FC Bayern und der HSV erneut um den Titel streiten würden, als der Spielplan diese beiden Teams im Süden der Republik zusammenführte.

Das Oktoberfest nur wenige Tage zuvor beendet, ein mit 72.000 Zuschauern ausverkauftes Olympiastadion in München; keine Selbstverständlichkeit in jenen Bundesliga-Tagen;der FIFA-Schiedsrichter Walter Eschweiler an der Pfeife und beide Teams mit allen ihren Stars an Bord, so begann die verheißungsvolle Begegnung der zwei großen Meisterschaftsfavoriten.

Wo auch jener Grund ins Spiel kommt, aus dem der Autor diese Partie für den vorliegenden Zweck auswählte. Denn der kleine Trainer Baade war damals jung. Und wenn man jung ist, muss man tun, was die Eltern sagen. Diese hatten sich zu einem Ausflug nach München entschlossen, mit dem "Rosaroten Ticket" der Deutschen Bahn, einem Vorläufer des "Schönes-Wochenend-Ticket", welches Jahre später etliche Fußballfans für ihre Auswärtsfahrten nutzen sollten. Doch dieser Ausflug nach München diente nicht dem Fußballschauen, sondern dem Erkunden der Stadt München. Deutsches Museum natürlich, Frauenkirche, Viktualienmarkt, Karl-Valentin-Museum, solcherlei Dinge. Ein Besuch des Olympiaparks samt Olympiastadion war erst am folgenden Sonntag geplant, wenn die Zuschauermassen dieses Gipfeltreffens schon      längst wieder heimgekehrt sein würden.

Wie es 1982 eben so war, gab es keine mobilen Informationsgeräte und so schlich der junge Trainer Baade durch die Stadt und begann ab 17.15h und in der folgenden Dreiviertelstunde unablässlich, Passanten nach dem Ergebnis dieses Schlagerspiels auszufragen. Zunächst vergeblich, doch irgendwann füllten sich die U-Bahn-Stationen immer mehr mit aus dem Olympiapark zurückkehrenden Bayern-Fans, von denen einer endlich ein Herz hatte, und dem wissbegierigen Jungen die Auskunft erteilte, wie      diese Partie denn nun ausgegangen war.

Jene Partie, nur wenige Kilometer weit entfernt gespielt, welche; so schien es nach einer halben Stunde; der HSV für sich würde entscheiden können. Ein Doppelschlag von Jürgen Milewski und Horst Hrubesch brachte die Hamburger mit 2:0 in Front. Jener Horst Hrubesch, welchem schon im EM-Finale 1980 zwei Tore gegen Jean-Marie Pfaff gelungen waren. Doch die Bundesliga wäre über die nun bald 50 Jahre ihres Bestehens hinweg kaum so beliebt geblieben, wenn da nicht immer die Hoffnung mitschwänge, dass man einen solchen Rückstand noch umdrehen könnte.

Genau diese Hoffnung des FC Bayern und seiner Anhänger erhielt Nahrung, als Paul Breitner nur kurz nach der Pause einen Foulelfmeter (Hieronymus an Dürnberger) zum Anschlusstreffer verwandelte. Kaum überraschend war es etwas später der zweite Teil des Duos "Breitnigge"; wie Kapitän Breitner und Adjutant Rummenigge in jenen Tagen vom Boulevard tituliert wurden; der in der 65. Minute den Ausgleich erzielte: Karl-Heinz Rummenigge traf zum 2:2.

"Alles wieder offen", wird einer der Kommentatoren des Spiels da wohl ins Mikro gerufen haben. In sein Mikro der ARD-Rundfunkkonferenz, denn Pay-TV mit Live-Übertragungen gab es ja noch nicht. Alles wieder offen und noch 25 Minuten zu spielen, da sollte doch noch ein Törchen möglich sein für den Hausherrn FC Bayern. Doch statt den psychischen Vorteil des gerade erzielten Ausgleichs zu nutzen, zitterten die Bayern nun wieder vor einem Gegentor, welches ihnen den mit dem Ausgleich möglichen einen Punkt wieder entrissen hätte. Die Hamburger drängten stattdessen ihrerseits auf das Siegtor.

Jean-Marie Pfaff patzte in der letzten halben Stunde der Partie mehrfach bei Flanken, zu seinem Glück ohne Folgen. Die Hamburger kamen zu gleich einigen Chancen, erzielten aber kein Tor. Bis der HSV in der letzten Spielminute eine Flanke in den Münchner Strafraum hereinbrachte und Bayerns Verteidiger Udo Horsmann von allen guten Geistern verlassen im Stile eines Volleyballers hinter dem Ball herhechtete und ihn möglicherweise mit der Hand zur Ecke lenkte. Klarer Fall von Elfmeter, fand die rheinische Frohnatur Walter Eschweiler, und entschied auch so. Damit waren nicht alle im Stadion einverstanden, war die vermeintliche Berührung doch nur schwer zu erkennen gewesen.

Tumulte im Stadion und Tumulte auf dem Platz waren die Folge. Tumulte, wie man sie selten in einem Stadion des FC Bayern erlebt. Wolfgang Kraus ging Walter Eschweiler gar physisch an, Paul Breitner musste die Münchner Fans in der Kurve direkt hinter jenem Tor beruhigen, auf welches der fällige Strafstoß getreten werden sollte. Es dauerte geschlagene sechs (!) Minuten, ehe dieser in der Nachspielzeit der Partie endlich ausgeführt werden konnte. Und zum Punkt schritt niemand Geringeres als der erfolgreichste Elfmeterschütze, den die Bundesliga je gesehen hat: Manfred Kaltz.
 
Ob der Rekordelfmeterschütze der Bundesliga tatsächlich, wie Uli Köhler im Video unten vermutet, durch die lange Wartezeit bis zur Ausführung nervös geworden war oder einfach ohne besonderen Grund unkonzentriert war, lässt sich nicht beurteilen. Wie dem auch gewesen sein mag: Der sonst so sichere Schütze Kaltz platzierte den Ball nur knapp rechts neben Jean-Marie Pfaff, der den schwachen Strafstoß locker parierte und den Ball sogar festhielt. Das Münchner Publikum war aus dem (Glasdach-) Häuschen und Jean-Marie Pfaff; 8 Spiele nach seinem Fauxpas gegen Reinders; der gefeierte Held des FC Bayern, der auf Schultern vom Platz getragen wurde.

Die gesamte, denkwürdige Partie fasst das folgende Video zusammen, ein zufällig von jenem Uli Köhler erstellter Beitrag, welcher auch heute noch über den FC Bayern berichtet und sich inzwischen selbst als Star begreift.


Wie Jean-Marie Pfaff danach gefeiert wurde und wie er in schönstem Deutsch-Flämisch Interviews gibt, zeigt hingegen das folgende, noch sehenswertere Video. Darin verrät Pfaff zudem, dass er ohnehin in Belgien auch schon "ein paar Elefmeters gestoppt" habe.  Pfaff also ein Elfmeterkiller, eine Kunde, die aus dem fernen Belgien noch nicht bis in den Freistaat Bayern vorgedrungen war. Auf diese Weise lernten es die 72.000 im Stadion allerdings gleich durch Augenschein. Und Manfred Kaltz ebenfalls.
Zum besseren Verständnis dieses schönen deutsch-flämischen Mischmaschs, den Pfaff darin produziert: "Hucke" bedeutet Ecke. Und "Klöre" bedeutet Farbe.



Ein rauschendes Fußballfest also, mit einem besonderen Helden des Nachmittags, Pfaff, und einem großen Verlierer Manfred Kaltz; geholfen hat's am Ende aus Münchner Sicht jedoch nichts. Deutscher Meister wurde in der Saison 1982/1983 trotzdem der Hamburger SV, die Bayern nur Vierter. Allerdings hatten die Bayern und der damals große HSV einen echten Höhepunkt der bald 50 Jahre Bundesliga-Historie auf den Rasen des Münchner Olympiastadions gezaubert.

Einen Höhepunkt, an den man sich heute noch in Rückschauen erinnert, und dessen Überbleibsel der kleine Trainer Baade am nächsten Tag in Form von Fankonfetti und sonstigen Resten großer Feierlichkeiten im Olympiastadion begutachten konnte. Vorm geistigen Auge sich natürlich die Szene vom Vortag vorstellend, wie Pfaff abtaucht, pariert und den Großteil des Stadions in einen Tempel der Freude verwandelt. Eltern, die mit ihren Kindern eine Stadt besuchen, sind stets früh auf den Beinen; der Reinigungsdienst im Olympiastadion wohl eher nicht so, hatten seine Angestellten vielleicht ebenfalls den dramatischen Punktgewinn etwas ausgiebiger gefeiert, welcher berauschend wie ein Sieg wirkte. Für Jean-Marie Pfaff war es ja tatsächlich einer.

Mit Witz, spitzer Feder gilt Trainer Baade als „Guru der Fußball-Blogger“. Stets auf Ballhöhe schreitend kürte das Magazin 11 Freunde sein Blog jüngst zum „Besten Fanmedium“ in Deutschland. Gemeinsam mit Kees Jaratz veröffentliche Trainer Baade kürzlich das Buch „111 Fußballorte im Ruhrgebiet, die man gesehen haben muss“. Über jenes urteilte die WAZ: „Absolut lesenswert ist es. Und das Zeug zum Klassiker hat es auch.“